Über die Liebe wurde seit Erfindung der Schrift immer wieder und in allen Kulturen geschrieben. Seien es Gedichte und Liedtexte über den oder die menschliche Geliebte oder spirituelle Lobgesänge auf eine göttliche, unerreichbare Wesenheit - allen Texten ist es inne, dass sie über die Sehnsucht nach körperlicher oder geistiger Vereinigung mit dem gewünschten Objekt der Begierde erzählen.
Doch, woher kommt diese Sehn-Sucht, dieses Verlangen nach Innigkeit?
Was ist Liebe?
Sie ist ein evolutionär entwickelter Überlebensmechanismus höher entwickelter, tierischer Organismen (Menschen sind auch nur etwas komplexer entwickelte Tiere).
Wenn alles gut, störungsfrei und reibungslos verläuft, entsteht während der Schwangerschaft/Trächtigkeit eine Bindung zwischen Embryo und Mutter. Wird das neue Wesen geboren, entsteht ein Hormoncocktail zwischen Mutter und Kind, der beide ineinander verliebt macht. Denn für das kleine Lebewesen ist es überlebenswichtig, hier die Hilfe und Unterstützung der Mutter (und gegebenenfalls ihrem nährenden Umfeld) zu bekommen, damit es die körperliche und geistige Reife erreichen kann, um selbständig ins Leben zu treten.
Dieser evo-biologische Mechanismus ist von Art zu Art und von Gattung zu Gattung unterschiedlich ausgeprägt. Schildkrötenmütter brüten ihre Eier nicht aus, sondern überlassen sie nach der Eiablage sich selbst.
Doch schon bei Vögeln haben wir über den Brutinstinkt hinaus eine Fürsorge für die Küken. Das Vogelelternpaar kümmert sich meist gemeinsam um die Aufzucht der Jungen und bei Gefahren für das Nest beschützen sie ihre Brut oft unter Einsatz des eigenen Lebens.
Bei Säugetieren unterscheiden wir zwischen Nestflüchtern wie Zebras, Pferden, Schafen und Kühen, wo die Kleinen rasch auf allen vier Beinen stehen müssen, um notfalls mit der Herde die Flucht vor Raubtieren zu ergreifen, und Nesthockern wie Primaten, Bären, Katzen und Hunden.
Hier sind die Kleinen oft noch eine ganze Weile nicht in der Lage, sich selbständig im Raum zu bewegen und daher sehr schutzbedüftig. Die kurzzeitige Beziehung zum anderen Geschlecht endet meist gleich nach der Kopulation, sodass die Muttertiere entweder auf sich sich selbst oder ihre Herde angewiesen sind.
Die Menschen sind hier wiederum eine ganz eigene Kategorie, denn als Mensch kommen wir als "zu früh Geborene" auf die Welt. Das hat etwas mit unserer Anatomie zu tun, denn der Kopf eines Kindes kann nur eine gewisse Größe erreichen, um durch den Geburtskanal zu gelangen. Daher sind menschliche Schwangerschaften nach spätestens neun Monaten fertig. Länger geht einfach nicht.
Die Evolution hat es nun bei uns Menschen so eingerichtet, dass gleich nach der Geburt, wenn das frisch geborene Kind auf dem Bauch der Mutter liegt, sich ein Hormoncocktail zwischen beiden ausschüttet, der die Mutter sich unsterblich in ihr Kind verlieben lässt. Alles andere wird unwichtig, nur die Bindung zwischen Kind und Mutter steht im Zentrum aller Gefühle. Ohne diese "Mutterliebe" könnte das Kind nicht überleben.
Treten hier Störungen auf, wird die Beziehung zwischen Mutter und Kind immer problematisch sein.
Bis weit in die 80iger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts war es üblich, gleich nach der Geburt, die Nabelschnur sofort zu durchtrennen, das Kind dann kopfüber zum Atmen zu zwingen (meist durch einen Klapps auf den Po), zu wiegen und in ein Handtuch zu wickeln. Es wurde dann kurz der Mutter gezeigt (!) und sofort in die Geburtsstation verbracht, wo es mit den anderen Neugeborenen isoliert von jedweden Reizen in kleinen Kisten lag.
Erst Stunden später wurde das kleine Kind zur Mutter gebracht, wo sie dann versuchen konnte, es zu stillen. Nach einer eng begrenzten Zeit wurden Mutter und Kind wieder getrennt und nur alle paar Stunden zueinander gebracht. Erst, wenn Mutter und Kind die Geburtsklinik verließen, konnten sie die Zeit wirklich miteinander verbringen.
Doch der Schaden war angerichtet! Weshalb bei den Generationen bis weit in die 80iger Jahre so oft Probleme zwischen Müttern und (heute erwachsenen) Kindern entstanden sind. Mütter konnten keine Bindung zu ihren Neugeborenen aufnehmen und die Babys nicht zu ihren Müttern. Mutterschuld und Mutterkarma wurden weiter gegeben.
Edit 12.03.2023 zu einem Radio-Feature über Gewalt in der Geburt:
Dass Störungen zwischen der Bindung zwischen Mutter und Kind heute auch massiv durch die Gewalt durch Geburtshelfende während des Geburtsvorgangs an der Mutter gefördert werden, wurde mir erst durch diesen Radiobeitrag klar. Bitte nur anhören, wenn du mental gut drauf und gesettled bist.
Hier beschreibe ich unsere "moderne", westliche Gesellschaft in Europa und Nordamerika.
Ich schweife hier ein wenig ab, um zu erläutern, dass wir heute alle in unseren Beziehungen hoch geschädigt sind, weil die allermeisten von uns die evo-biolgische Anbindung ans menschlich-mütterliche Kontinuum nicht erleben durften.
Was hat das jetzt mit der Liebe zu tun?
Wie oben erwähnt, braucht es einen gewissen Hormoncocktail, um eine Verliebtheit zu initialisieren.
Kann dieser nicht artgerecht zwischen Kind und Mutter ausgeschüttet werden, entsteht ein Mangelzustand, der beim Kind später nicht mehr intrinsisch genährt werden kann. Diese Sehnsucht nach der Liebe zur Mutter wird dann externalisiert und auf einen anderen Menschen projiziert.
Dazu kommt noch die patriarchale "Gehirnwäsche" seit mindestens dreitausend Jahren, die die Mütter von ihren Kindern entfernt hat. Töchter müssen bis heute das Mutterhaus verlassen und einen fremden, nicht verwandten Mann zusammentun (heiraten), Söhne müssen spätestens zu Beginn der Pubertät in die Männerwelt eintreten, um dort als "ganze Männer" künftig ihr Leben zu leben.
Da die Liebesbindung zur eigenen Mutter nicht mehr gelebt werden durfte (und bis heute darf), mussten Liebes-Surrogate erfunden werden - die hingebungsvolle Liebe (agape) an eine jenseitige Wesenheit (Gott, Götter, Göttin), eine irdische Wesenheit oder Idee (König, Kaiser, Guru, Vaterland), oder maximal noch als romantische Liebe zwischen Mann und Frau (gilt auch für gleichgeschlechtliche Paarbeziehungen).
Die romantische Liebe
Besonders in esoterisch-spirituellen Strömungen sollen die beiden (getrennten) Teile von Mann und Frau wieder zu einem Ganzen, einer Einheit, verschmelzen.
Doch was hier ersehnt wird, ist die Rück-An-Bindung ans menschlich-mütterliche Kontinuum, das wir alle durch den Patriarchalisierungsprozess verloren haben. Der Partner, die Partnerin, soll das wieder zusammen fügen, was das Patriarchat getrennt hat. Darunter leiden wir alle.
Rona Duwe schreibt in ihrem Beitrag zur Liebe: "Die Liebe ist die Droge des Patriarchats." Und: "Der Mensch rennt also sein Leben lang hinter der Möhre der Liebe her und erreicht sie doch nie wirklich und zumindest nicht dauerhaft."
Wenn wir uns hier nun klar werden, dass unsere Erwartungen in punkto Liebe ein unhaltbares Wunschmärchen sind und erkennen, dass die Gefühle, die wir empfinden, grundlegend die Sehnsuchstgefühle nach und in die Kontinuumsbindung sind, machen wir uns frei von enttäuschter Liebe, Herzschmerz und Liebeskummer.
Denn - ein einzelner, fremder Mensch kann gar nicht das erfüllen, was uns die Evolution und die Natur gegeben hat.
Obendrein "werden [in der patriarchalen, romantischen Liebe, A. d. V.] hier die zwei prototypische Individuen (fast einer jeden Spezies) – das biologische Phänomen Mann mit der Leben hervorbringenden Bioeinheit Frau – zwanghaft zusammengedacht und umgekehrt. Was dabei weitgehend wegfällt, ist das eigentlich naheliegende automatische Mitdenken von Kindern, Geschwistern bzw. den mütterlicherseits zugeordneten und in Zeit und Raum verzweigten Angehörigen." Wie uns Stephanie Gogolin hier erläutert.
Die Liebe muss wieder vom evo-biologischen Überlebensmechanismus des neu geborenen Kindes aus verstanden werden, dann sehen wir auch klar auf die Liebes- und Beziehungsprobleme, die wir heute mit uns herum schleppen.
Eine Verliebtheit hat trotzdem ihren Sinn, denn sie führt uns Menschen zusammen, damit in allen Bereichen etwas Neues entstehen kann. Nur sollten wir uns von den patriarchalen Erwartungshaltungen (Liebes-)Beziehungen betreffend "bis das der Tod euch Scheidet" verabschieden.
Wir tun uns nur Gutes damit.
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